Finanzlexikon Entstehung: ESG-Ratings
ESG-Ratings sind aus der heutigen Finanzwelt nicht mehr wegzudenken. Sie sollen Anlegern helfen, die Nachhaltigkeitsperformance von Unternehmen besser zu verstehen – und zu bewerten.
Doch so zentral diese Ratings mittlerweile sind, so wenig wissen viele Investoren über ihre Entstehung. Was messen ESG-Ratingagenturen eigentlich genau? Wie kommen die Bewertungen zustande? Und warum unterscheiden sich die Ergebnisse verschiedener Anbieter so stark?
ESG als Bewertungskategorie: Drei Säulen, viele Deutungen
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Der Begriff ESG steht für die drei zentralen Nachhaltigkeitsdimensionen:
- E wie Environmental: CO₂-Ausstoß, Energieverbrauch, Ressourceneffizienz, Umweltverschmutzung.
- S wie Social: Arbeitsbedingungen, Menschenrechte, Diversität, Produktsicherheit, Lieferkettenverantwortung.
- G wie Governance: Unternehmensführung, Aufsichtsstrukturen, Korruptionsvermeidung, Transparenz.
Grundsätzlich untersuchen ESG-Ratings, wie gut ein Unternehmen diese Risiken erkennt, steuert und kommuniziert. Es geht nicht um moralische Urteile, sondern um Risikomanagement – zumindest in der Theorie. In der Praxis fließen jedoch auch normative Bewertungen ein, was zu divergierenden Ansätzen führt.
Die wichtigsten ESG-Ratinganbieter
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Zu den führenden Akteuren im Markt zählen unter anderem:
- MSCI ESG Research
- Sustainalytics (eine Tochter von Morningstar)
- ISS ESG (Teil der Deutschen Börse Group)
- S&P Global ESG
- Moody’s ESG Solutions
- Refinitiv ESG
Jeder Anbieter nutzt eigene Bewertungsmodelle, Datenquellen und Gewichtungssysteme – was zu teils erheblichen Abweichungen in den Resultaten führt. Ein Unternehmen kann bei MSCI mit „AAA“ bewertet sein, bei Sustainalytics aber zu den ESG-Risikokandidaten zählen.
Datensammlung: Der Rohstoff für die Bewertung
Die Grundlage jeder ESG-Bewertung ist die Datenlage. ESG-Agenturen nutzen typischerweise eine Kombination aus:
- Unternehmensangaben: Geschäftsberichte, Nachhaltigkeitsberichte, freiwillige Offenlegungen.
- Medienauswertungen: Negative Presse, Whistleblower-Berichte, öffentlich zugängliche Skandale.
- NGO- und Regierungsdaten: Studien zu Umweltverstößen, Arbeitsrechtsverletzungen, staatlichen Strafen.
- Direktbefragungen: Fragebögen an Unternehmen mit standardisierten Angaben zu ESG-relevanten Themen.
Ein grundlegendes Problem: ESG-Daten sind weder vollständig standardisiert noch immer verlässlich. Während börsennotierte Großunternehmen umfassend berichten, bleiben viele Mittelständler oder Unternehmen aus Schwellenländern intransparent. Das führt zu Datenlücken – und in der Folge zu oft nur eingeschränkt vergleichbaren Ratings.
Methodik: Vom Datenpunkt zur Note
Die eigentliche Kunst der ESG-Bewertung liegt in der Übersetzung der gesammelten Daten in eine vergleichbare Skala. Dabei gehen die Agenturen unterschiedlich vor.
Einige nutzen absolutistische Modelle, die Unternehmen anhand fixer Kriterien bewerten – etwa wie viel CO₂ pro Umsatz erwirtschaftet wird. Andere setzen auf relativistische Modelle, bei denen ein Unternehmen innerhalb seiner Branche verglichen wird. Das bedeutet: Ein Ölkonzern kann im ESG-Ranking weit oben landen, wenn er besser als seine Konkurrenten abschneidet – auch wenn seine absolute Klimabilanz weiterhin kritisch ist.
Die Gewichtung der ESG-Faktoren variiert ebenfalls stark. Während MSCI stark auf branchenspezifische materielle Risiken fokussiert, legt Sustainalytics größeren Wert auf generelle ESG-Risikomanagementstrukturen. ISS ESG berücksichtigt wiederum auch normative Aspekte wie UN-Leitlinien.
Kontroverse: Warum es keine einheitliche ESG-Wahrheit gibt
ESG-Ratings sind wertvolle Instrumente für Investoren, um sich im komplexen Feld nachhaltiger Geldanlage zu orientieren. Doch sie sind kein Gütesiegel und keine objektive Wahrheit, sondern methodisch geprägte Einschätzungen mit Grenzen."
Die größte Kritik an ESG-Ratings liegt in ihrer Uneinheitlichkeit. Ein und dasselbe Unternehmen kann je nach Agentur eine exzellente oder eine mangelhafte Bewertung erhalten. Studien belegen, dass die Korrelation zwischen den Bewertungen führender Anbieter zum Teil unter 0,5 liegt – bei klassischen Kreditratings liegt sie über 0,95.
Die Gründe dafür sind vielfältig:
- Unterschiedliche Definitionen von Nachhaltigkeit
- Unterschiedliche Gewichtungen und Aggregationslogiken
- Divergierende Quellen und Datenverfügbarkeiten
- Unterschiedliche Zielsetzungen (Risikoorientierung vs. normative Beurteilung)
Für Anleger bedeutet das: ESG-Ratings sind kein objektives Urteil, sondern Ausdruck eines bestimmten methodischen Verständnisses von Nachhaltigkeit.
Konsequenzen für Investoren und Anbieter
Wer ESG-Ratings als Entscheidungsgrundlage nutzen will, sollte:
- Die zugrunde liegende Methodik der Agentur verstehen.
- Nicht blind auf einen Score vertrauen, sondern Kontextinformationen mit einbeziehen.
- Im Zweifel mehrere Quellen heranziehen, um sich ein differenziertes Bild zu machen.
Asset Manager wiederum stehen vor der Aufgabe, die ESG-Bewertungen kritisch zu reflektieren und in eigenen Due-Diligence-Prozessen zu validieren – insbesondere bei Fonds mit ESG-Anspruch.
Regulierung und Zukunftsperspektiven
Die EU arbeitet derzeit an einer Regulierung des ESG-Ratingmarkts. Die geplante Verordnung sieht vor, dass Anbieter ihre Bewertungsmethoden, Quellen und möglichen Interessenkonflikte offenlegen müssen. Damit soll der Markt transparenter, vergleichbarer und vertrauenswürdiger werden.
Langfristig könnte sich ein Standardisierungsprozess durchsetzen – ähnlich wie bei Finanzratings. Dennoch bleibt ESG-Bewertung immer auch mit Werturteilen verbunden. Nachhaltigkeit ist nicht nur messbar – sie ist auch gesellschaftlich umkämpft.
Fazit: Ein Werkzeug, kein Orakel
ESG-Ratings sind wertvolle Instrumente für Investoren, um sich im komplexen Feld nachhaltiger Geldanlage zu orientieren. Doch sie sind kein Gütesiegel und keine objektive Wahrheit, sondern methodisch geprägte Einschätzungen mit Grenzen.
Wer ESG-Ratings nutzen will, braucht deshalb mehr als nur Zugang zu Daten: Er oder sie braucht Urteilsvermögen – und ein Verständnis dafür, wie diese Bewertungen überhaupt zustande kommen.

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