Niedrigzinsen sollten zur Kreditaufnahme führen Haushaltsdefizite aus Vernunft
Verkehrte Welt! Wenn die Zinsen unter Null fallen, stehen Schuldner am Ende der Kreditdauer mit einem Vermögenszuwachs dar, während Kreditgeber verlieren. Diese Situation ist fast da - zumindest, wenn es um Staatsfinanzierung geht. Machen jetzt Haushaltsdefizite plötzlich Sinn?
Bisher galten ausgeglichene Staatshaushalte als weitgehend akzeptiertes Ziel. Nur wenige Finanzminister erreichen das. Wolfgang Schäuble verteidigt seit Jahren seine "schwarze Null" und wehrt sich gegen ungedeckte Mehrausgaben. Seine vergleichsweise komfortable Situation hat er auch den anhaltenden Niedrigzinsen zu verdanken. Die EZB-Politik erspart dem Bundeshaushalt jährlich Milliarden-Beträge an Zinsaufwendungen. Inzwischen ist die Rendite der meisten Bundesanleihen sogar negativ.
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Wird zu viel gespart?
Es gibt Ökonomen - wie den amerikanischen Wirtschaftsprofessor Larry Summers -, die angesichts dieser Entwicklung fordern, Haushaltsdefizite nicht länger als Übel anzusehen. In einer Welt, in der Schulden machen nicht nur nichts mehr kostet, sondern sogar noch Erträge bringt, sei es sinnlos, ja geradezu kontraproduktiv, auf Schuldenfinanzierung zu verzichten. Sie sehen den Zinsverfall weniger als Ergebnis der Notenbank-Politik, sondern als Folge eines Überangebots an Sparkapital.
Die Argumentation geht so: In den westlichen Industrieländern wird derzeit mehr gespart als investiert. Dies hänge zum einen mit der Überalterung vieler Gesellschaften zusammen - ältere Menschen sparen mehr als jüngere -, zum anderen mit den fehlenden Investitionschancen für Unternehmen. Die Folge sei, dass der "normale" Spar- und Investitionskreislauf nicht mehr funktioniere: Haushalte stellen den Unternehmen Kapital zur Verfügung, das diese rentierlich investieren. Aus den Erträgen werden anschließend die Zinsen bezahlt. Das Überangebot an nicht verwendbarem Geld führt danach zwangsläufig zum Zinsverfall.
Eine Neuauflage von Keynes
Um diese Lage zu durchbrechen, solle der Staat einspringen und selbst als Investor auftreten. Die Finanzierung solle über Schuldenaufnahme - sprich: wachsende Haushaltsdefizite - erfolgen. Damit könne das Überangebot an Sparkapital abgeschöpft werden, was die Zinsen auf Dauer auch wieder steigen ließe. Projekte für staatliches Investment gebe es genug: Infrastruktur, Bildungseinrichtungen, Klima- und Umweltschutz zum Beispiel.
Projekte für staatliches Investment gibt es genug: Infrastruktur, Bildungseinrichtungen, Klima- und Umweltschutz zum Beispiel."
Letztlich handelt es sich bei solchen Forderungen um eine Neuauflage der Keynesschen Theorie. Der Nationalökonom John Maynard Keynes hatte bereits in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise eine - vorübergehende - schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenpolitik gefordert. Unumstritten ist die Keynes-Neuauflage jedenfalls nicht.
Auch wenn an der These eines längerfristigen Zinstrends nach unten manches dran ist, kann die Rolle der Notenbanken bei der aktuellen Zinssituation nicht übersehen werden. Ohne deren massive Geldschwemme wären Negativzinsen unwahrscheinlich. Insofern handelt es sich sehr wohl um eine künstlich herbeigeführte Situation, nicht um eine "natürliche" Entwicklung. Und die mittels Haushaltsdefizite zu "bekämpfen", dürfte doch wohl eher fragwürdig sein.