Wissenswertes zu aktuellen Finanzthemen

Finanzlexikon Verhaltensfallen in Krisen

Warum wir im Tief verkaufen – und wie man sich selbst überlistet.

Crashes sind keine reinen Finanzereignisse, sondern Stressereignisse. Der Puls steigt, der Blick verengt sich, und plötzlich fühlt sich „Verluste begrenzen“ wie Rettung an. Psychologisch ist das nachvollziehbar – finanziell oft fatal. Wer die eigenen Verhaltensfallen kennt und Gegenmaßnahmen vorab definiert, lässt sich in stürmischen Phasen von Regeln tragen statt von Gefühlen treiben.

Verlustaversion: Schmerz wiegt doppelt

Wir verkaufen im Tief, weil unser Gehirn uns schützen will – nur schützt es das Depot nicht. Der Ausweg ist kein Kaltherz, sondern Vorbereitung: Bandbreiten statt Bauch, Protokoll statt Panik, Medien-Diät statt Doomscrolling. Wer das System vor der Krise baut, muss in der Krise nur eines tun: ihm folgen."

Menschen empfinden Verluste etwa doppelt so stark wie Gewinne vergleichbarer Größe. In Bärenmärkten führt das zu Fehlkalibrierung: −20 % fühlen sich wie „fast alles ist weg“. Das Gehirn will den Schmerz stoppen – durch sofortiges Handeln. Doch panische Verkäufe verwechseln Schmerzlinderung mit Schadensbegrenzung. Der nüchterne Gegenentwurf lautet: Verluste sind vorübergehende Zustände in risikobehafteten Anlagen, sofern die Strategie intakt und der Zeithorizont lang genug ist.

Gegenmaßnahme: Definieren Sie im ruhigen Wasser eine Maximaldelle, die psychologisch tolerierbar ist (z. B. −25 % im Aktienanteil). Leiten Sie daraus Ihre Zielquote und Bandbreiten ab. Fällt das Depot stärker als Ihre Toleranz, war das Portfolio nicht zu wild – es war zu groß im Risikoanteil.

Herdenverhalten: Sicherheit im Kollektiv – bis es kippt

Wenn alle laufen, laufen wir mit. In Krisen wirkt das besonders stark: Der Strom an negativen Nachrichten suggeriert, es gäbe „Insiderwissen der Masse“. Tatsächlich entstehen Feedback-Schleifen: Kursstürze erzeugen Berichte, Berichte erzeugen Verkäufe. Herdenverhalten spart Denken, aber es vernichtet Unabhängigkeit.

Gegenmaßnahme: Legen Sie objektive Auslöser fest, die nicht vom Tagesrauschen abhängen – z. B. Rebalancing nur bei Bandbreitenbruch, Käufe nur in Tranchen an festen Stichtagen, Verkäufe nur nach vorher notierten Gründen. Die Herde darf lärmen; Ihre Auslöser bleiben stumm, bis sie „klicken“.

Verfügbarkeitsbias: Das Dramatische verdrängt das Wahrscheinliche

Was präsent ist, erscheint wahrscheinlich. In der Krise sind extreme Szenarien überpräsent: Endlos-Rezession, Systembruch, „diesmal ist alles anders“. Statistisch sind Erholungen häufiger und schneller, als das Gefühl zulässt. Doch das Gehirn zählt Geschichten, nicht Häufigkeiten.

Gegenmaßnahme: Reduzieren Sie den Input. Medien-Diät heißt nicht Unwissen, sondern Kuratierung: wenige, ruhige Quellen zu festen Zeiten. Ergänzen Sie ein Crash-Journal: notieren Sie wöchentlich drei Zahlen (Depotquote Risiko/Sicherheit, Cash-Puffer, Rebalancing-Abstand) und keine Headlines. Zahlen erden, Schlagzeilen erhitzen.

Kontrollillusion: Viel handeln = viel Kontrolle?

Krisen erhöhen das Bedürfnis, „etwas zu tun“.

Trades geben das Gefühl von Wirksamkeit, selbst wenn sie statistisch schaden.

Besonders gefährlich:

der Wechsel von Strategie zu Meinung („Ich weiß, dass es noch 10 % fällt“).

Kontrolle entsteht jedoch nicht durch Aktion, sondern durch Prozesse.

Gegenmaßnahme: Bauen Sie eine Handelsbremse ein:

  • Cooling-off: 24 Stunden zwischen Impuls und Order, plus schriftliche Begründung.
  • Sperrtage: Keine Disposition an Tagen mit dreistelliger Volatilität, außer Rebalancing-Signal.
  • Delegation: Bei Panik eine Vertrauensperson anrufen, die nur eine Frage stellt: „Welche Regel greift jetzt?“

Bestätigungsfehler: Wir sammeln Beweise, keine Informationen

Unter Stress suchen wir nach Nachrichten, die unsere Angst bestätigen. So wird die Informationswelt eingefärbt – und die Angst größer. Aus der Echokammer heraus erscheint der Ausstieg „rational“.

Gegenmaßnahme: Definieren Sie Gegenquellen oder eine „Pflichtlektüre“ mit anderer Sicht. Noch wirksamer: Legen Sie vorher fest, welche Kennzahlen einen echten Strategiewechsel rechtfertigen (z. B. dauerhafte Regeländerungen, persönliche Lebenslage, Steuer-/Kostenfaktoren) – nicht „Gefühl X“.

Status-quo-Bias und Anker: Vom falschen Startpunkt gefesselt

Wir orientieren uns am Kaufkurs. Fällt eine Position unter den Einstieg, wollen wir „zumindest auf Null raus“. Das ist Ankern am Beliebigen; der Markt kennt Ihre Kaufschwelle nicht. Relevant sind Zukunftserträge, nicht Vergangenheitspech.

Gegenmaßnahme: Formulieren Sie pro Baustein einen Zweck („Langfristiger Wachstumsbaustein“, „Stoßdämpfer“). Wird der Zweck erfüllt, bleibt die Position – egal, wo der Kaufkurs lag. Wird er nachhaltig verfehlt (Strukturbruch), folgt ein geordnetes Umschichten – mit Dokumentation.

Regelsystem statt Willenskraft: Das Investment Policy Statement

Willenskraft ist im Sturm überfordert. Was hilft, ist ein Investment Policy Statement (IPS): ein zweiseitiges Dokument mit Zielquote, Bandbreiten, Rebalancing-Regeln, Kauf-/Verkaufsverboten, News-Zeitfenstern, Notfallkontakten. Es ist der Vertrag mit dem künftigen Ich. In ruhigen Zeiten unterschreiben beide – das gelassene und das ängstliche Ich. In Krisen liest das ängstliche Ich, was es tun und was es lassen soll.

Mini-Toolkit für den Ernstfall

  • Eine Seite mit Rebalancing-Bandbreiten und Ordertextbausteinen (damit im Stress keine Romane entstehen).
  • Ein Crash-Journal mit wöchentlichen, nüchternen Kennziffern.
  • Eine Kontaktliste (Partner:in, Berater:in) mit klaren Aufgaben – wer zeichnet, wer prüft.

Mehr braucht es nicht – solange Sie es wirklich anwenden.

Fazit

Wir verkaufen im Tief, weil unser Gehirn uns schützen will – nur schützt es das Depot nicht. Der Ausweg ist kein Kaltherz, sondern Vorbereitung: Bandbreiten statt Bauch, Protokoll statt Panik, Medien-Diät statt Doomscrolling. Wer das System vor der Krise baut, muss in der Krise nur eines tun: ihm folgen.

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