Finanzlexikon Entnahmepläne im Ruhestand
Der Aufbau eines ETF-Portfolios für die Altersvorsorge ist für viele Anlegerinnen und Anleger zu einem selbstverständlichen Bestandteil der finanziellen Lebensplanung geworden. Sparpläne auf kostengünstige, breit gestreute ETFs ermöglichen es, über Jahrzehnte systematisch Vermögen zu bilden. Doch während der Vermögensaufbau mit ETFs immer mehr an Akzeptanz gewinnt, ist die zweite Phase – der Übergang vom Ansparen zur Entnahme – für viele noch ein wenig erforschter, oft unterschätzter Bereich.
Dabei ist gerade die Entnahmephase im Ruhestand entscheidend dafür, ob das mühsam aufgebaute Vermögen langfristig ausreicht. Wer zu viel entnimmt, riskiert, dass das Kapital vorzeitig aufgebraucht ist. Wer zu vorsichtig vorgeht, lebt womöglich deutlich unter seinen Möglichkeiten. Zwischen diesen Extremen liegt die Kunst eines guten Entnahmeplans: regelmäßig, nachhaltig und flexibel.
Die zentrale Herausforderung: Langlebigkeit und Planungsunsicherheit
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Der Ruhestand ist heute nicht mehr nur eine kurze Phase am Lebensende. Wer mit Anfang oder Mitte 60 in Rente geht, hat oft noch 20 bis 30 Jahre Lebenszeit vor sich – mit unterschiedlichen Ausgabenbedarfen, gesundheitlichen Entwicklungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Die größte Herausforderung bei Entnahmeplänen liegt daher in der Unsicherheit über die Dauer des Lebens und die Entwicklung der Märkte. Niemand weiß, wie alt er wird, wie hoch die Inflation langfristig ist oder ob größere Krisen das Portfolio zwischenzeitlich belasten.
Daraus ergeben sich drei zentrale Anforderungen an einen Entnahmeplan:
- Auskömmlichkeit: Die regelmäßigen Entnahmen sollen die Lebenshaltungskosten decken
- Nachhaltigkeit: Das Kapital soll – idealerweise – ein Leben lang reichen
- Flexibilität: Der Plan muss auf veränderte Lebensumstände reagieren können
Ein pauschaler Ansatz funktioniert hier nicht. Vielmehr ist ein individuell justierter, aber methodisch fundierter Rahmen nötig.
Entnahmestrategien im Überblick
Es gibt unterschiedliche Modelle für die Entnahme von ETF-Vermögen. Sie unterscheiden sich in ihrer Systematik, ihrer Sicherheit und ihrer Anpassungsfähigkeit:
1. Die konstante Entnahme
Bei dieser Methode wird ein fester monatlicher oder jährlicher Betrag entnommen – z. B. 1.000 Euro pro Monat, unabhängig von der Portfolioentwicklung. Sie ist einfach umzusetzen und bietet Planbarkeit, hat aber den Nachteil, dass sie in schlechten Marktphasen rasch zur Substanzzehrung führen kann.
2. Die dynamische Entnahme (prozentual)
Hierbei wird jährlich ein fester Prozentsatz des aktuellen Portfoliowertes entnommen – z. B. 4 %. Fällt das Vermögen in einem Jahr, sinkt die Entnahme; steigt es, kann mehr entnommen werden. Dieses Modell passt sich an die Marktentwicklung an, erfordert jedoch höhere finanzielle Flexibilität im Alltag.
3. Die 4-Prozent-Regel (Trinity-Studie)
Diese aus den USA stammende Faustregel besagt, dass man jährlich 4 % des ursprünglichen Anfangsvermögens entnehmen kann, ohne das Kapital mit hoher Wahrscheinlichkeit vorzeitig aufzubrauchen. Bei einem Startkapital von 300.000 Euro wären das 12.000 Euro pro Jahr. Sie geht jedoch von historischen US-Daten aus und ist nicht eins zu eins auf europäische Verhältnisse übertragbar.
4. Lebensphasenmodell
Portfoliostruktur während der Entnahmephase
Ein ETF-Portfolio ist kein Selbstzweck. Es soll irgendwann genutzt werden – für Reisen, Wohnen, Familie, Gesundheit, Genuss und Sicherheit. Der Übergang vom Vermögensaufbau zur Vermögensverwendung ist dabei keine reine Rechenaufgabe, sondern eine Lebensentscheidung mit finanzieller Fundierung."
Ein erfolgreicher Entnahmeplan basiert nicht nur auf der Frage „Wie viel?“ – sondern auch auf der Struktur des verbleibenden Vermögens. ETF-Portfolios im Ruhestand sollten daher stabiler und risikoadjustierter sein als in der Ansparphase.
Ein klassischer Ansatz ist die 50/50-Strategie: Ein Teil des Portfolios bleibt in Aktien-ETFs investiert, um langfristige Wertentwicklung zu ermöglichen; der andere Teil wird in risikoärmere Anlageklassen wie Anleihen-ETFs oder Geldmarktinstrumente umgeschichtet. Je nach Risikoneigung und Marktlage kann dieses Verhältnis angepasst werden – etwa auf 60/40 oder 30/70.
Ein weiterer Ansatz ist der sogenannte „Cashflow-Ansatz“: Hierbei wird der Liquiditätsbedarf für die nächsten drei bis fünf Jahre in sicheren, schwankungsarmen Anlagen vorgehalten, während das restliche Vermögen weiterhin investiert bleibt. Dies ermöglicht es, auch in Krisenjahren Entnahmen zu tätigen, ohne in fallende Märkte verkaufen zu müssen.
Steuern und Freibeträge beachten
In der Entnahmephase spielen steuerliche Aspekte eine große Rolle. Gewinne aus ETFs unterliegen der Abgeltungsteuer von 25 % zuzüglich Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchensteuer – sofern sie über dem jährlichen Freibetrag (Sparer-Pauschbetrag von aktuell 1.000 Euro pro Person) liegen.
Entscheidend ist, wie lange die ETFs gehalten wurden, ob sie thesaurierend oder ausschüttend sind, und ob sie nach dem Investmentsteuergesetz von 2018 unter die Teilfreistellung (für Aktienfonds: 30 %) fallen. Eine clevere Strukturierung der Entnahmen kann helfen, die Steuerlast zu minimieren, etwa durch Teilverkäufe, Nutzung von Verlustverrechnungstöpfen oder das Ausschöpfen von Freigrenzen.
Emotionale Dimension: Zwischen Kontrolle und Gelassenheit
Neben Zahlen und Strategien gibt es eine oft unterschätzte emotionale Komponente: Viele Menschen tun sich schwer damit, im Alter Geld auszugeben, das sie jahrzehntelang aufgebaut haben. Die Angst, zu früh zu viel auszugeben, steht oft dem Wunsch gegenüber, das Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten.
Ein guter Entnahmeplan hilft hier nicht nur rechnerisch, sondern auch psychologisch: Er bietet Orientierung, nimmt Unsicherheit und macht die eigene finanzielle Lage greifbar. Wer weiß, wie viel er guten Gewissens monatlich entnehmen kann, lebt entspannter – und oft auch freier.
Fazit: Entnahmepläne sind der zweite – entscheidende – Teil der Altersvorsorge
Ein ETF-Portfolio ist kein Selbstzweck. Es soll irgendwann genutzt werden – für Reisen, Wohnen, Familie, Gesundheit, Genuss und Sicherheit. Der Übergang vom Vermögensaufbau zur Vermögensverwendung ist dabei keine reine Rechenaufgabe, sondern eine Lebensentscheidung mit finanzieller Fundierung.
Ein kluger Entnahmeplan basiert auf Weitblick, Anpassungsfähigkeit und persönlicher Zielorientierung. Er berücksichtigt nicht nur das Kapital, sondern auch die Lebensphasen, Bedürfnisse, Steuern und Emotionen. So wird aus finanzieller Planung gelebte Souveränität – und aus Altersvorsorge echte Lebensqualität im Ruhestand.
Erst der Mensch, dann das Geschäft