Verteidigung als soziales Gut? ESG-Kriterien und Rüstung
Lange Zeit galt es als klare Linie in der Welt der nachhaltigen Geldanlage: Rüstungsunternehmen sind tabu. Fonds mit ESG-Fokus – also unter Berücksichtigung von Umwelt (Environmental), Sozialem (Social) und guter Unternehmensführung (Governance) – schlossen Hersteller und Zulieferer von Waffen kategorisch aus. Diese Position hatte moralischen Rückhalt, gesellschaftliche Akzeptanz und regulatorische Unterstützung.
Doch mit dem geopolitischen Umbruch seit 2022 und der sicherheitspolitischen Neuausrichtung vieler westlicher Länder ist Bewegung in die Debatte gekommen. Ist die Herstellung von Verteidigungsgütern per se nicht nachhaltig – oder kann sie unter bestimmten Umständen als „soziale Verantwortung“ gelten? Die Antwort fällt nicht mehr eindeutig aus. Das Spannungsfeld zwischen ethischen Anlagerichtlinien und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten wird zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit und Anpassungsfähigkeit der ESG-Bewegung.
Die traditionelle ESG-Perspektive: Ausschluss durch Definition
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Der Grundgedanke ist einfach: Rüstung steht in direktem Zusammenhang mit Gewalt, Konflikt und Zerstörung – also mit Zielen, die sozialen und ethischen Grundsätzen widersprechen.
Entsprechend wurden Rüstungshersteller in vielen Nachhaltigkeitsfonds und ESG-Indizes explizit ausgeschlossen. Besonders strikt ist dabei der Umgang mit kontroversen Waffen wie Landminen, Streumunition oder nuklearen Sprengköpfen.
Auch Unternehmen, die solche Waffen nicht selbst herstellen, aber wesentliche Komponenten zuliefern, wurden häufig ausgeschlossen – nach dem Prinzip der „wesentlichen Beteiligung“.
Diese Haltung war über Jahrzehnte weitgehend unumstritten – zumal Rüstungsunternehmen auch in puncto Transparenz, Governance und Lieferkettensorgfalt oft nicht den Standards anderer Branchen genügten. ESG bedeutete: Vermeidung statt Komplizenschaft.
Die Zeitenwende: Verteidigung als soziales Gut?
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist ein grundlegender Diskurswechsel zu beobachten. Verteidigung wurde vielerorts nicht mehr als kriegerisches Mittel, sondern als Voraussetzung für Freiheit, Frieden und Demokratie verstanden. In dieser Lesart ist militärische Sicherheit nicht das Gegenteil von sozialer Nachhaltigkeit, sondern eine ihrer Voraussetzungen.
Diese Sichtweise eröffnet Raum für eine neue Bewertung von Rüstungsunternehmen im ESG-Kontext: Wenn Verteidigung notwendig ist, um Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und zivile Gesellschaften zu schützen, dann kann ihre Produktion – zumindest in Teilen – auch als sozial gerechtfertigt gelten. Nicht jede Waffe ist ein Angriffswerkzeug. Die Unterscheidung zwischen „defensiver“ und „offensiver“ Ausrichtung rückt stärker in den Fokus.
Zudem drängt sich die Frage auf, ob der pauschale Ausschluss westlicher Verteidigungsunternehmen aus ESG-Portfolios nicht zu einer Asymmetrie der moralischen Bewertung führt – insbesondere dann, wenn Staaten oder Investoren durch ihr Verhalten dennoch auf militärische Sicherheit angewiesen sind, diese aber nicht durch verantwortliche Akteure mittragen wollen.
ESG-Ratingagenturen unter Druck
Die Diskussion über ESG und Rüstung ist ein Gradmesser für die Reife nachhaltiger Finanzkonzepte. Sie zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht nur aus Umwelt- und Klimakennzahlen besteht, sondern auch Fragen von Stabilität, Freiheit und Schutz umfasst. In einer Welt, in der Demokratien zunehmend unter Druck stehen, muss auch die Frage erlaubt sein, wie viel Rüstung nötig ist, um Frieden zu sichern – und ob man sich aus ethischer Sicht vollständig aus dieser Verantwortung zurückziehen darf."
Dieser Wandel spiegelt sich auch in der Praxis der ESG-Ratingagenturen wider. Lange Zeit war es für Anbieter wie MSCI, Sustainalytics oder ISS ESG selbstverständlich, Unternehmen mit militärischem Geschäft stark abzuwerten oder ganz auszuschließen. Nun müssen diese Akteure ihre Bewertungslogiken überdenken – nicht zuletzt, weil institutionelle Investoren neue Differenzierungen verlangen.
Einige Agenturen beginnen inzwischen, Rüstungsunternehmen nicht mehr grundsätzlich negativ zu bewerten, sondern sie unter bestimmten Bedingungen – etwa bei klarer Fokussierung auf staatlich legitimierte Verteidigungszwecke, guter Unternehmensführung und Transparenz – in ESG-Scorings zu integrieren. Gleichzeitig wächst der Druck, Begriffe wie „kontroverse Waffen“, „defensive Kapazitäten“ oder „dual use“ präziser zu definieren.
Diese Entwicklung ist nicht frei von Kritik. Einerseits wird befürchtet, dass ESG dadurch beliebig wird. Andererseits zeigt sich, dass strikte Ausschlusskriterien allein nicht mehr ausreichen, um dem komplexen Verhältnis zwischen Ethik, Sicherheit und Finanzmarkt gerecht zu werden.
Investoren zwischen Prinzipientreue und Realpolitik
Für viele institutionelle Anleger – etwa Pensionsfonds, Stiftungen oder Kirchen – stellt sich die Frage, ob und wie eine verantwortungsvolle Beteiligung an Rüstungsunternehmen möglich ist, ohne das eigene Wertefundament zu untergraben.
Einige Investoren setzen auf eine stärkere Unterscheidung zwischen offensivem und defensivem Rüstungszweck, auf aktive Einflussnahme im Rahmen von Engagement-Strategien und auf eine gezielte Transparenzforderung gegenüber den Unternehmen. Andere bleiben bei einem vollständigen Ausschluss, aus Gründen der Glaubwürdigkeit gegenüber ihren Stakeholdern.
Auch politisch nimmt die Diskussion Fahrt auf. In der EU wird über eine mögliche ESG-Klassifizierung bestimmter Verteidigungsinvestitionen diskutiert – im Sinne einer „grünen Sicherheitsarchitektur“. Solche Vorschläge zeigen: Das ESG-Regelwerk ist nicht statisch, sondern Ausdruck eines normativen Aushandlungsprozesses, der sich an gesellschaftlichen Realitäten orientiert.
Fazit: ESG-Kriterien in der sicherheitspolitischen Realität neu denken
Die Diskussion über ESG und Rüstung ist ein Gradmesser für die Reife nachhaltiger Finanzkonzepte. Sie zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht nur aus Umwelt- und Klimakennzahlen besteht, sondern auch Fragen von Stabilität, Freiheit und Schutz umfasst. In einer Welt, in der Demokratien zunehmend unter Druck stehen, muss auch die Frage erlaubt sein, wie viel Rüstung nötig ist, um Frieden zu sichern – und ob man sich aus ethischer Sicht vollständig aus dieser Verantwortung zurückziehen darf.
Die ESG-Welt steht damit vor einer anspruchsvollen, aber notwendigen Herausforderung: Sie muss klare Prinzipien mit politischer Realität vereinbaren, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Eine differenzierte Bewertung von Verteidigungsunternehmen, basierend auf Zielsetzung, Transparenz und ethischer Abgrenzung, kann ein Weg sein, diesem Anspruch gerecht zu werden.

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