Die Zeiten des reibungslosen, globalisierten Austauschs sind vorbei

Legarde Neue Machtverhältnisse

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat beim jüngsten G7-Finanzministertreffen in Japan eine bemerkenswert klare Einschätzung geäußert: „Der Welthandel wird nie mehr derselbe sein.“ Ihre Worte fielen nicht in einem beiläufigen Kommentar, sondern im Kontext einer intensiven Diskussion über die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft, über neue Handelsbarrieren – und über das Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Offenheit und politischer Selbstbehauptung.

Was lange als irreversibler Trend erschien – die immer engere wirtschaftliche Verflechtung über Länder- und Kontinentalgrenzen hinweg – wird heute wieder infrage gestellt. Zölle, Subventionen, politische Sanktionen und nationale Sicherheitsstrategien drängen sich wieder ins Zentrum der Debatte. Die liberale Handelsordnung, wie sie in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg dominierte, ist tief erschüttert.

Lagardes Diagnose: Die Zeiten des reibungslosen, globalisierten Austauschs sind vorbei – und mit ihnen ein zentrales Stabilitätsversprechen der Weltwirtschaft.


G7-Finanzminister suchen den Weg zwischen Kooperation und Abgrenzung

Das G7-Treffen, an dem neben der EZB-Chefin auch die Finanzminister der führenden Industrieländer teilnahmen, wurde überschattet von der anhaltenden Auseinandersetzung zwischen dem Westen und China – nicht nur im Bereich der Technologie, sondern auch im Handel.

Die USA, die EU, Japan und Kanada drängen auf fairere Wettbewerbsbedingungen und werfen der Volksrepublik vor, durch staatliche Subventionen systematisch Marktverzerrungen zu erzeugen.

Auch im Fokus: Neue US-Zölle auf Elektrofahrzeuge und Halbleiterprodukte aus China, die Peking als protektionistisch verurteilt.

Die EU ihrerseits prüft ähnliche Schritte – vor allem zum Schutz der eigenen Schlüsselindustrien wie Maschinenbau, Automobilsektor und grüne Technologien.

Lagarde betonte, dass diese Entwicklung nicht vorübergehend, sondern strukturell sei. Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass nach politischen Kurswechseln – etwa in den USA – eine Rückkehr zur alten Handelsordnung erfolgen werde.

Vielmehr müsse sich Europa auf eine dauerhaft multipolare Weltordnung einstellen, in der Handelsbeziehungen zunehmend politischen Kriterien folgen.


Der Aufstieg des „Friendshoring“ und das Ende der naiven Globalisierung

Ein zentrales Schlagwort dieser neuen Weltordnung lautet „Friendshoring“. Gemeint ist damit die gezielte Verlagerung von Produktionsketten in Länder, die als politisch verlässlich gelten – als Partner in einem wertebasierten Bündnis.

Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von der früheren Logik der Globalisierung, in der Effizienz, Kostenoptimierung und Standortvorteile im Vordergrund standen. Heute gewinnen andere Kriterien an Gewicht: strategische Abhängigkeiten, Resilienz, Kontrolle über kritische Infrastrukturen.

Die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben diese Umsteuerung beschleunigt. Plötzlich wurde sichtbar, wie gefährlich einseitige Abhängigkeiten sein können – etwa bei Medikamenten, Mikrochips oder Energie. Die Folge ist ein neues Nachdenken über Handelsbeziehungen, das nicht nur ökonomisch, sondern vor allem politisch motiviert ist.

Lagarde sieht darin das Ende der naiven Globalisierung. Der Glaube, dass Handelsverflechtung automatisch zu politischer Annäherung und Stabilität führt, habe sich nicht bestätigt. Die neue Weltordnung wird von selektiver Öffnung, Misstrauen und strategischer Autonomie geprägt sein.


China im Zentrum der geopolitischen Spannungen

Die Welt steht an einer wirtschaftspolitischen Weggabelung. Was Christine Lagarde formulierte, ist mehr als eine Beobachtung – es ist eine strategische Weichenstellung. Der Welthandel, wie er seit den 1990er Jahren funktionierte, ist vorbei. An seine Stelle tritt ein System, das stärker politisiert, fragmentierter und sicherheitsgetriebener ist."

Ein großer Teil der Debatte beim G7-Treffen kreiste um China – und die Frage, wie der Westen mit einem ökonomischen Giganten umgehen soll, der zugleich systemischer Rivale ist. Besonders sensibel ist dabei die wachsende Präsenz chinesischer Produkte in westlichen Schlüsselbranchen, etwa bei Elektromobilität und grünem Wasserstoff.

Lagarde machte deutlich, dass es nicht um eine Abschottung gegenüber China gehe, sondern um faire Wettbewerbsbedingungen. Die massive staatliche Förderung chinesischer Hersteller schaffe jedoch ein Ungleichgewicht, das westliche Unternehmen in existenzielle Bedrängnis bringe. Zugleich nähmen Sicherheitsbedenken zu – etwa bei der Abhängigkeit von chinesischen Plattformen, Rechenzentren oder Lieferketten im Hightech-Sektor.

Die Notwendigkeit zur Abgrenzung sei nicht politisch gewollt, sondern ökonomisch und sicherheitspolitisch erzwungen. Dabei sei es Aufgabe der Finanzpolitik, industrielle Transformation mit gezielten Investitionen zu fördern, ohne in pauschalen Protektionismus zu verfallen.


Auswirkungen auf Geldpolitik und Stabilitätsarchitektur

Die Entwicklung zu einem stärker fragmentierten Welthandel hat auch geldpolitische Implikationen. Christine Lagarde stellte klar, dass geopolitische Risiken zunehmend zur Herausforderung für die Preisstabilität werden. Neue Zölle, Lieferkettenverlagerungen oder Importbeschränkungen führen oft zu höheren Produktionskosten – und können langfristig inflationäre Effekte auslösen.

Anders als klassische Nachfrageinflation lässt sich geopolitisch getriebene Preissteigerung nur schwer mit Zinserhöhungen bekämpfen. Die EZB müsse deshalb wachsam bleiben – sowohl gegenüber externen Schocks als auch gegenüber binnenwirtschaftlichen Reaktionen auf steigende Preise.

Zugleich warnt Lagarde vor einem zu simplen Verständnis von Autarkie. Wirtschaftliche Abschottung sei kein Weg zur Stabilität, sondern ein Pfad in die Ineffizienz. Europa müsse sich deshalb auf einen neuen Mix aus Resilienz, Offenheit und Eigenständigkeit verständigen – mit klarer politischer Koordination.


Fazit: Eine neue Ära des Welthandels – mit offenem Ausgang

Die Welt steht an einer wirtschaftspolitischen Weggabelung. Was Christine Lagarde formulierte, ist mehr als eine Beobachtung – es ist eine strategische Weichenstellung. Der Welthandel, wie er seit den 1990er Jahren funktionierte, ist vorbei. An seine Stelle tritt ein System, das stärker politisiert, fragmentierter und sicherheitsgetriebener ist.

Für Europa bedeutet das: Es braucht eine neue Handelspolitik, die wirtschaftliche Stärke mit geopolitischem Realismus verbindet. Freier Handel wird auch künftig möglich sein – aber nicht mehr bedingungslos. Offenheit muss sich in Zukunft an Fairness, Gegenseitigkeit und strategischer Resilienz messen lassen.

Lagardes Einschätzung ist daher nicht nur Analyse, sondern ein Weckruf: Wer weiterhin an alten Glaubenssätzen festhält, riskiert wirtschaftspolitische Naivität. Wer hingegen bereit ist, die neue Realität anzunehmen, kann sie mitgestalten – im Geist offener Kooperation, aber mit wachem Blick für die eigene Souveränität.

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