Verteidigung als Bestandteil des „S“ in ESG?

Neuer Nachhaltigkeitsbegriff? ESG und Verteidigung

Lange Zeit galt das Verhältnis zwischen nachhaltigem Investieren und Rüstung als eindeutig: Waffenhersteller, Rüstungszulieferer und Unternehmen mit militärischer Ausrichtung wurden kategorisch aus nachhaltigen Fonds ausgeschlossen. Die Abkürzung „ESG“, die für Umwelt (Environment), Soziales (Social) und gute Unternehmensführung (Governance) steht, schien per se mit Verteidigung unvereinbar.

Doch die Welt hat sich verändert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die wachsenden Spannungen im Indopazifik und die allgemeine Rückkehr geopolitischer Machtpolitik stellen nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch den nachhaltigen Finanzdiskurs vor neue Fragen. Kann es „grüne Waffen“ geben? Ist Verteidigung ein sozialer Wert? Und gehört militärische Resilienz künftig zur ESG-kompatiblen Nachhaltigkeit?

Diese Fragen markieren einen möglichen Paradigmenwechsel im Verständnis nachhaltiger Geldanlage – mit weitreichenden Folgen für Investoren, Fondsgesellschaften, Ratingagenturen und Regulierungsbehörden.


Das ESG-Verständnis im Wandel

Traditionell galt das ESG-Prinzip als moralischer Kompass für Kapitalströme. Umweltfreundlichkeit, soziale Verantwortung und Transparenz in der Unternehmensführung sollten Investoren helfen, nachhaltige, ethisch vertretbare und zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen.

Die ESG-Kriterien wurden von Ratingagenturen operationalisiert, von Finanzakteuren standardisiert und von Regulierungsbehörden zunehmend verpflichtend in Berichtsstandards integriert.

Rüstungsunternehmen fielen dabei regelmäßig durch: Die Herstellung tödlicher Waffen, der potenzielle Export in Krisenregionen, die Nähe zu staatlicher Macht – all das schien nicht in das normative Raster einer „guten“ Geldanlage zu passen.

Doch mit dem Angriffskrieg auf europäischem Boden änderte sich der Ton. Plötzlich wurde gefragt: Ist ein Staat, der sich nicht verteidigen kann, nachhaltig?

Ist ein Friedensprojekt wie die EU nicht gerade auf Sicherheit angewiesen? Und: Kann man demokratische Werte absichern, ohne militärische Mittel zur Verfügung zu stellen?


Verteidigung als Bestandteil des „S“ in ESG?

Ein neuer Denkansatz gewinnt seither an Boden: Verteidigung wird nicht mehr als aggressiver Akt interpretiert, sondern als legitimes Mittel zum Schutz gesellschaftlicher Strukturen. Wer sich verteidigt – oder anderen Verteidigung ermöglicht –, sorgt für Stabilität, Freiheit und Souveränität. Damit könnten Rüstungsunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen als positiv zur sozialen Nachhaltigkeit beitragend gewertet werden.

Diese Sichtweise ist nicht unumstritten, aber sie findet wachsende Resonanz – nicht zuletzt bei politischen Entscheidungsträgern. So diskutiert die EU-Kommission, ob bestimmte Verteidigungsaktivitäten in die Taxonomie nachhaltiger Investitionen aufgenommen werden können. Auch einige ESG-Ratingagenturen haben ihre Bewertungskriterien überarbeitet oder differenzierter ausgestaltet.

Wichtig ist dabei eine Abgrenzung zwischen „defensiver“ und „kontroverser“ Rüstung. Während Atomwaffen, Streumunition oder autonome Tötungssysteme weiterhin ausgeschlossen bleiben, könnten klassische Verteidigungsgüter – Panzer, Luftraumsicherung, Cyberabwehr – in einem neuen ESG-Rahmen denkbar sein.


Der Druck auf institutionelle Investoren wächst

Für institutionelle Anleger, Pensionskassen oder nachhaltige Fonds stellt sich die Frage, wie sie mit diesem Wandel umgehen. Viele von ihnen unterliegen klaren Ausschlusskriterien, die eine Investition in Rüstung untersagen. Doch der politische und gesellschaftliche Druck wächst: Sollten solche Investoren nicht auch zur Finanzierung der Verteidigungsfähigkeit beitragen – gerade in Europa?

Einige reagieren mit neuen Produktkategorien: ESG+ oder Sustainable Defense-Fonds, die gezielt „nicht-kontroverse“ Verteidigungstitel integrieren, aber klare Grenzen definieren. Andere fordern mehr regulatorische Klarheit – etwa durch eine offizielle Einstufung bestimmter Rüstungsbereiche als „unvermeidbar“ oder „zumutbar“ im ESG-Kontext.

Der Spagat bleibt schwierig: Ethische Konsistenz versus strategische Verantwortung. Wer Sicherheit als Voraussetzung von Nachhaltigkeit begreift, muss bereit sein, den eigenen Kompass neu zu justieren – ohne ihn beliebig zu machen.


Geopolitik trifft Kapitalmarkt: Die Rolle der ESG-Ratings

Die Frage, ob Verteidigung nachhaltig sein kann, führt uns zum Kern der ESG-Debatte: Was verstehen wir unter Verantwortung? Reicht es, CO₂ zu senken und soziale Arbeitsbedingungen zu fördern? Oder gehört auch der Schutz von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten zur Nachhaltigkeit?"

Ein zentrales Element in dieser Debatte sind die ESG-Ratingagenturen. Sie entscheiden darüber, ob ein Unternehmen als nachhaltig gilt – und beeinflussen damit massiv den Zugang zu Kapital. In den letzten Jahren haben einige Agenturen ihre Bewertungsmethoden überarbeitet und Verteidigungsunternehmen differenzierter eingestuft.

Kriterien sind u. a.:

  • die Endverwendung der Produkte (z. B. rein defensiv, für NATO-Mitglieder, unter demokratischer Kontrolle)
  • die Art der hergestellten Waffen (z. B. konventionell vs. völkerrechtlich geächtet)
  • die Beteiligung an menschenrechtskonformen Missionen (z. B. UN-Blauhelmeinsätze)
  • die interne Governance und Transparenz des Unternehmens
  • Lieferung von Waffen in "Kirsen- oder "Schurkenstaaten"

Solche Anpassungen zeigen: Die ESG-Welt wird nicht aufgeweicht, sondern neu ausbalanciert. Nachhaltigkeit ist kein statisches Ideal, sondern ein dynamisches Konzept, das mit der gesellschaftlichen Realität Schritt halten muss.


Zwischen Risiko und Verantwortung: Was Investoren jetzt bedenken müssen

Für Anleger ergeben sich aus dem veränderten ESG-Verständnis neue Optionen – aber auch neue Risiken. Einerseits eröffnen sich Möglichkeiten, durch Investitionen in sicherheitsrelevante Unternehmen auf neue geopolitische Realitäten zu reagieren. Andererseits bleibt die öffentliche Wahrnehmung ein sensibler Punkt: Nicht jeder Anleger möchte mit Waffenherstellern in Verbindung gebracht werden – auch wenn diese defensiv arbeiten.

Die Herausforderung besteht darin, eine kohärente, transparente und glaubwürdige ESG-Strategie zu formulieren, die Verteidigung nicht automatisch ausschließt, aber kritisch reflektiert. Dazu gehört auch, regelmäßig die eigene Positionierung zu überprüfen, gesellschaftliche Debatten aufzunehmen und regulatorische Entwicklungen zu beobachten.


Fazit: ESG braucht Sicherheit – und Sicherheit braucht ESG

Die Frage, ob Verteidigung nachhaltig sein kann, führt uns zum Kern der ESG-Debatte: Was verstehen wir unter Verantwortung? Reicht es, CO₂ zu senken und soziale Arbeitsbedingungen zu fördern? Oder gehört auch der Schutz von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten zur Nachhaltigkeit?

In einer Welt, in der die regelbasierte Ordnung unter Druck steht, in der Grenzen wieder umkämpft sind und in der Sicherheit zur Voraussetzung von Entwicklung wird, muss auch ESG neu gedacht werden. Nicht als Abschied von Prinzipien, sondern als Weiterentwicklung in einem komplexeren Umfeld. Dabei sollten Verteidigungsunternehmen selbst auf Ihre soziale Nachhaltigkeit hin überprüpft werden.

Verteidigung ist in diesem neuen Verständnis nicht der Gegensatz zur Nachhaltigkeit, sondern ihr Schutzschild. Und ESG ist nicht mehr nur Ausdruck von Wertehaltung – sondern zunehmend ein strategisches Konzept zur Sicherung gesellschaftlicher Grundlagen.

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