Serie Geschichte: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945 Wirtschaftswunder
Bis heute wird unser Bild von der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre von dem Wirtschaftswunder geprägt - jener rund zwei Jahrzehnte währenden Phase eines dynamischen Aufschwungs, der die Zerstörungen des Krieges und das Elend der Nachkriegsjahre hinter sich ließ.
Schon in der Bezeichnung "Wirtschaftswunder" kommt das Unerwartete und Überraschende dieser Entwicklung zum Ausdruck. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der wirtschaftliche Aufstieg keineswegs so "wundersam" war. Es gab dafür handfeste Gründe - ohne dass das die Aufbauleistung der Deutschen jener Jahre schmälert.
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Überraschend gute Ausgangsposition
Zunächst einmal war die Ausgangssituation im Westen Deutschland keineswegs so schlecht, wie es angesichts vieler zerbombter Städte, Industrieanlagen und Verkehrswege den Anschein hatte. Tatsächlich waren die Produktionskapazitäten noch etwa zu 80 bis 85 Prozent vorhanden. Da für die Kriegsproduktion viel Industrie zusätzlich aufgebaut worden war, lag das unzerstörte Industriepotential unter dem Strich sogar über dem Vorkriegsniveau. Auch die Verkehrswege waren nur punktuell zerstört, die schlimmsten Schäden konnten schon vor Gründung der Bundesrepublik beseitigt werden. Und den deutschen Unternehmen standen nach wie vor qualifizierte Arbeitskräfte mit Know How zur Verfügung.
Es bedurfte daher vor allem günstiger Rahmenbedingungen, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Die schufen bereits die alliierten Besatzungsmächte. Mit der Gründung der Bizone 1947 und wenige Monate später der Trizone wurden die bis dahin künstlich getrennten Wirtschaftsgebiete der amerikanischen, britischen und französischen Zone erneut vereinigt. Die Währungsreform 1948 stellte das Vertrauen in die Währung wieder her. Mit der D-Mark kam der Handel schnell in Schwung. Und zusätzliche Impulse brachte der Marshall-Plan, der Mittel für Investitionen bereitstellte.
Der wirtschaftliche Aufstieg war keineswegs so "wundersam", wie der Begriff Wirtschaftswunder vermuten lässt."
Ein verlässlicher Rahmen setzt Kräfte frei
Trotz des schwierigen Erbes - die Lage der Bundesrepublik war bei Beginn ihrer Existenz also gar nicht so schlecht. Es bedurfte eines fundierten Ordnungsrahmens und gesicherter Verhältnisse, um sich das Wirtschaftswunder entfalten zu lassen. Beides bot die Politik unter Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Während Adenauer die konsequente Einbindung in den Westen anstrebte, setzte sich Erhard nachhaltig für eine liberale Ordnungspolitik und die soziale Marktwirtschaft ein. In diesem Umfeld kam das Wirtschaftswunder zustande.
Es führte binnen weniger Jahre zur Vollbeschäftigung - nach noch über zwei Millionen Arbeitslosen im Jahre 1950. Innerhalb einer Dekade verdreifachte sich bereits das westdeutsche Bruttosozialprodukt, die Bundesrepublik wurde eines der größten Exportländer der Welt. Über viele Jahre war der Aufschwung ungebrochen. Erst 1967 gab es eine leichte Rezession. Seinen definitiven Abschluss fand das Wirtschaftswunder mit der ersten Ölkrise 1973. Erst dann endete die Boomphase nach dem Krieg tatsächlich.
von Matthias Böttcher