Lehrbuchmeinung widerlegt Entkoppelung der Börsen von der wirtschaftlichen Entwicklung
Es gehört zu den klassischen finanztheoretischen Paradigmen, dass zwischen Börsenentwicklung und Wirtschaftsentwicklung ein Zusammenhang, ja sogar ein gewisser, zeitlich versetzter Gleichklang besteht. Sind die Wirtschaftsaussichten gut, läuft es auch an der Börse rund. Sind die Perspektiven düster, zeigt sich das in sinkenden Kursen.
Doch seit einiger Zeit scheint diese Gesetzmäßigkeit außer Kraft gesetzt. Die Aktienkurse steigen, auch wenn Wirtschaftsdaten eher mäßig sind. Ist hier klassische Börsenpsychologie am Werk, die zu Übertreibungen neigt, oder liegt es an den niedrigen Zinsen durch eine ultralockere Geldpolitik, die den Börsen Liquidität zuführt? Amerikanische Forscher haben noch eine andere Erklärung.
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Früher stimmte der Zusammenhang
Die US-Ökonomen Daniel L. Greenwald, Martin Lettau und Sydney C. Ludvigson haben in einer Untersuchung den amerikanischen Aktienmarkt der letzten Jahrzehnte näher unter die Lupe genommen und gelangen dabei zu interessanten Erkenntnissen. Danach kann von einer Art Zeitenwende gesprochen werden: es gibt ein Davor und Danach bezüglich der Gültigkeit von Lehrbuchmeinungen zu Aktienkursen. 1989 ist ein Schlüsseljahr.
Im Zeitraum 1959 bis 1988 haben sich die Kurse von US-Aktien tatsächlich im Schnitt so entwickelt, wie die Theorie es sieht. Es konnte ein hoher statistischer Zusammenhang zwischen den Aktienkursen und dem Wirtschaftswachstum festgestellt werden. Das Wachstum liefert einen Erklärungsbeitrag von 92 Prozent zur Kursentwicklung. Die Lehrbücher werden bestätigt: Aktienkurse sind abdiskontierte erwartete Unternehmensgewinne, die wiederum vom Wachstum bestimmt werden.
Wendepunkt 1989
Nach 1989 sinkt allerdings der Erklärungsgehalt dieser klassischen Auffassung dramatisch auf 23 Prozent. Der inflationsbereinigte reale Börsenwert von Unternehmen hat seitdem bis heute um 8,4 Prozent pro Jahr zugenommen. Die Wirtschaft ist in diesem Zeitraum längst nicht so stark gewachsen. Das Wachstum wurde sogar tendenziell schwächer. Die Kursentwicklung hat sich offenbar vom Wirtschaftswachstum entkoppelt.
Wer Kapital besitzt, investiert eher an der Börse als Bezieher von Arbeitslohn."
Da es um einen langen Zeitraum geht, kann das Phänomen nicht der Börsenpsychologie zugeschrieben werden - sie macht sich eher kurzfristig bemerkbar. Auch die Zinsentwicklung als Ursache halten die Studien-Autoren für überschätzt (Erklärungsgehalt 11 Prozent).
Sie haben noch einen anderen Ansatz: es ist die Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten von Kapitaleinkünften und zu Lasten von Arbeitseinkommen im Zeitablauf, der kurstreibend wirkt. Wer Kapital besitzt, investiert eher an der Börse als Bezieher von Arbeitslohn - Zeit, dies auch theoretisch zu berücksichtigen.